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Funktionalität von Verschwörungserzählungen

Autorin: Anne Broden

1. Wie „funktionieren“ Verschwörungserzählungen?

Verschwörungserzählungen müssen von realen Verschwörungen unterschieden werden[1]: Reale Verschwörungen sind dadurch charakterisiert, dass sie sich auf einen konkreten Zeitpunkt (z.B. 20. Juli 1944) beziehen und ein konkretes Ziel haben (z.B. Beendigung des Krieges und der NS-Herrschaft). Verschwörungserzählungen hingegen beziehen sich fast immer auf größere zeitliche Dimensionen und rekurrieren auf wesentlich ambitioniertere und zugleich vagere Ziele, z. B. einer unterstellten angestrebten Weltherrschaft (vgl. Butter 52021, S. 37). Dies trifft beispielsweise auf die antisemitische Verschwörungserzählung vom „geldgierigen Juden“ zu, die Jahrhunderte alt ist und mittlerweile in der extremen Rechten zur Verschwörungsideologie des vom „Juden dominierten internationalen Finanzsystems“ geronnen ist.[2]

Darüber hinaus sind Verschwörungserzählungen oder Verschwörungsideologien[3] dadurch gekennzeichnet, dass ihre Anhänger*innen keine wissenschaftliche Widerlegung akzeptieren. Wissenschaftsfeindlichkeit kann als ein Wesensmerkmal von Verschwörungserzählungen interpretiert werden. Gleichwohl verweisen die Anhänger*innen von Verschwörungserzählungen gerne auf die Expertise unbekannter Wissenschaftler*innen oder auf nicht nachprüfbare Ergebnisse unbekannter/nicht existenter Studien. Sie geben sich also explizit einen wissenschaftlichen Anstrich, um Gegenargumente ins Leere laufen zu lassen.

Verschwörungserzählungen sehen im Geheimen operierende Gruppen von Verschwörer*innen, die angeblich die Menschen, ein Land oder die ganze Welt zu kontrollieren oder gar zu vernichten suchen. Die vermeintlichen Verschwörer*innen können reale Menschen sein, z. B. jüdische Personen, Kommunist*innen, Illuminaten, aber auch Reptiloide[4]. Sie werden immer als besonders machtvolle Instanzen gedacht.

Ein weiteres Kennzeichen von Verschwörungserzählungen ist die Vorstellung, dass hinter allem ein großer Plan stecke, nichts durch Zufall geschehe. So werden die Migrationsbewegungen der Jahre 2015/16 nicht als Fluchtbewegungen aufgrund der Kriege in Syrien und Afghanistan gewertet; vielmehr stecke ein großer Plan von Verschwörer*innen dahinter – wahlweise das internationale Judentum oder die Regierung Merkel – um den sog. großen Austausch zu organisieren. Als großer Austausch wird von der extremen Rechten eine Verschwörung bezeichnet, die darauf abziele, die weiße Rasse in Europe durch (muslimische) Einwanderung zu zerstören.[5] Direkt anschlussfähig an diese Ideologie sind der Antifeminismus und antiqueere Ideologien, demnach sowohl Feminist*innen als auch queere Menschen angeblich das Überleben der weißen Rasse durch ihre Verweigerung, Kinder in die Welt zu setzen, gefährden.

Als Charakteristika von Verschwörungsideologien können zudem genannt werden:

  • Ein starker Dualismus zwischen Gut und Böse, denen da oben und wir hier unten;
  • Verschwörungserzählungen suchen immer nach Schuldigen;
  • Anhänger*innen von Verschwörungserzählungen unterscheiden zwischen sich, den „Wissenden“, und der breiten Masse der Bevölkerung, den „Schlafschafen“, die die Verschwörung und die damit einhergehenden Gefahren nicht erkennen können oder wollen.

2. Einige bekannte, aktuelle Verschwörungserzählungen und -ideologien:

  • Corona„diktatur“: demokratische Mechanismen und Strukturen sollen demnach abgeschafft werden;
  • QAnon: Ein vermutlich weißer US-Amerikaner, der vor allem in Social Media und im Internet beispielsweise jüdische Eliten verdächtigt, Kinder in einer Unterwelt festzuhalten, um aus deren Blut einen Stoff zu entwickeln, der ihnen als Verjüngungsmittel dient (vgl. alte antisemitische Kindesmordlegende). Das interessante an QAnon ist seine Vorgehensweise: Er selbst erzählt keine Verschwörungserzählungen, sondern stellt suggestive Fragen, deren Beantwortung allerdings antisemitische und extrem rechte Verschwörungserzählungen nahelegt.[6]
  • Reichsbürger*innen sind Gruppierungen oder Einzelpersonen, die unter Berufung auf das historische Deutsche Reich und den angeblich nicht vorhandenen Friedensvertrag nach 1945[7] das Fortbestehen des Deutschen Reiches reklamieren und die Existenz der Bundesrepublik Deutschland sowie deren Rechtssystem ablehnen, den demokratisch gewählten Repräsentant*innen die Legitimation absprechen oder sich selbst als außerhalb der Rechtsordnung stehend definieren.

3. Funktionen von Verschwörungserzählungen

Verschwörungserzählungen dienen nach Pia Lamberty[8] verschiedenen „Bedürfnissen“ des Menschen:

Verschwörungserzählungen dienen dem Streben nach Kontrolle und Verstehen:

Menschen suchen vor allem in Krisenzeiten, wenn sie glauben, die Kontrolle zu verlieren oder sie sich ohnmächtig fühlen, nach Strategien, um mit diesen privaten oder gesellschaftlichen Problemlagen umzugehen. Der Glaube an Verschwörungserzählungen kann solch eine Strategie sein: Die Verschwörungserzählung erklärt vermeintlich die Welt, die Krise wird begreifbar. Wer an geheime Strippenzieher*innen glaubt, hat nicht nur eine Erklärung für das Geschehen, sondern zugleich einen Schuldigen. Die Welt wird (wieder) verständlich und geordnet – in „die da oben“, „wir hier untern“, „sie, die Bösen“, „wir, die Guten“. Verschwörungserzählungen ordnen also das Geschehen, sei es im Privatem (z. B. Arbeitsplatzverlust) oder globales Geschehen (z. B. Fluchtbewegungen oder Pandemie). Menschen, die zu Verschwörungserzählungen neigen, vermuten oder interpretieren absichtliches Handeln und gezielte Pläne auch hinter Ereignissen, die nicht geplant oder von „denen da oben“ organisiert werden. Sie glauben, die Welt zu verstehen, und was verstanden wird, macht weniger Angst.

Verschwörungserzählungen dienen einer positiven Selbstwahrnehmung:

Darüber hinaus bestärken Verschwörungserzählungen das Gefühl, „die Wahrheit zu sehen“, auch die Vorstellung, den „Unwissenden“ etwas voraus zu haben, besonders zu sein; Verschwörungserzählungen können somit den eigenen Selbstwert erhöhen. Insbesondere Menschen, die ein starkes Bedürfnis haben, sich selbst als einzigartig zu fühlen, glauben an Verschwörungserzählungen. Sie sehen sich selbst als die „Wissenden“ (und die Guten), während die anderen im Nichtwissen verharren, die „Schlafschafe“ sind, die den Regierungen/den Mächtigen und/oder den Medien blind hinterherlaufen. Oder die anderen sind selbst Teil der Verschwörung und damit per se die Schlechten, „die da oben“. „Menschen glauben also auch deswegen an Verschwörungen, weil sie sich dadurch besser fühlen können.“ (Lamberty ebd.)

Von diesen sozialpsychologischen Funktionen, die Verschwörungserzählungen für deren Anhänger*innen haben, muss das politische und/oder finanzielle Kalkül derer, die Verschwörungsideologien in die Welt setzen, unterschieden werden:

Ob Donald Trump, QAnon, Daniele Ganser[9] oder andere Verschwörungsideolog*innen, egal, ob sie wie QAnon und Ganser behaupten, nur Fragen zu stellen,[10] oder ob sie das Gerücht vom Wahlbetrug in die Welt setzen: mit diesen Verschwörungsideologien setzen diese Personen Ansichten in die Welt, die mit knallharten politischen Interessen verknüpft sind.

Während einzelne Verschwörungsideologien als extrem rechte antidemokratische Propaganda identifiziert werden können, z. B. die Ideologie des Großen Austauschs, ist dies von anderen Verschwörungserzählungen, beispielswiese im Kontext der Pandemie, nicht zwangsläufig der Fall. Das Problem ist jedoch, das auch vermeintlich harmlose Verschwörungserzählungen als Brücken zu extrem rechten Ideologien dienen können. Wer heute der Auffassung ist, dass die Beschränkungen während der Corona-Pandemie überzogen sind und das Virus in Wirklichkeit nicht so schlimm sei, stellt womöglich morgen wissenschaftliche Ergebnisse zur Pandemie grundsätzlich infrage, unterstellt den Regierenden unangemessenen Machmissbrauch, stellt die Sinnhaftigkeit von Demokratie und freien Wahlen infrage etc. Anhänger*innen von Verschwörungserzählungen neigen dazu, erst an ein Phantasma zu glauben und morgen an ganz viele.

Bei dem Schweizer Verschwörungsideologen Daniele Ganser – und er ist nicht der Einzige – liegt neben seinem ideologischen Antrieb noch ein anderes Interesse zugrunde: Mit seinen Veranstaltungen vor einem großen Publikum und mit seinen Publikationen verdient er sehr viel Geld. Die „Zuschauer hängen an seinen Lippen. Sein ständiger Subtext: Die Bevölkerung wird manipuliert. Seine Masche: Ganser sät Zweifel durch Suggestivfragen, baut dadurch Verschwörungsideologien auf, ohne sich angreifbar zu machen.“ Ganser bringt „sein Publikum auf manipulative Weise dazu, selbst ihre Schlüsse zu ziehen - seine Schlüsse.“[11]

Nocum und Lamberty gehen in einem neuen Buch der Esoterikbranche auf den Grund und weisen nach, wie mit dem Verkauf von „Heilsteinen“ und mit Horoskoperstellungen Millionen gescheffelt werden. Dies führt nicht nur zu individuellen Schädigungen, beispielswiese wenn Krebserkrankte Schamanen aufsuchen. Die Autor:innen zeigen auch auf, wie rassistisches Gedankengut anschlussfähig ist an esoterische Lehren. Es wird deutlich: Nicht nur völkisch-autoritäre Verschwörungserzählungen stellen ein Problem für Individuen und die Gesellschaft dar, auch vermeintlich harmlose Verschwörungserzählungen von Heilsteinen etc. machen deutlich, wie entsprechende Erzählungen in den antidemokratischen Sumpf führen. Eine Unterscheidung von problematischen und harmlosen Verschwörungserzählungen ist deshalb nicht angebracht.


Literatur

Butter, Michael (52021): „Nichts ist, wie es scheint“ Über Verschwörungstheorien, Berlin: Suhrkamp

Nocun, Katharina/Lamberty, Pia (2022): Gefährlicher Glaube - Die radikale Gedankenwelt der Esoterik, Köln: Quadriga Verlag

Autorin

Anne Broden ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der TH Köln und arbeitet u.a. im Projekt RaisoN zu Radikalisierungsprozessen durch Verschwörungsideologien; www.th-koeln.de/raison


 

[1] So führte die Verschwörung einiger ranghoher Militärs am 20. Juli 1944 zum Attentat auf Adolf Hitler. Ziel des Attentats und dieser Verschwörung war die Beendigung des Zweiten Weltkrieg sowie der nationalsozialistischen Herrschaft.

[2] vgl. dazu https://www.dhm.de/lemo/bestand/objekt/flugblatt-der-nsdap-arbeitslose-hier-der-verursacher-unseres-elends-um-1930.html (6.12.23)

[3] Eine Verschwörungserzählung ist eine einzelne erfundene Geschichte, z. B. die der Brunnenvergiftung durch jüdische Personen im Mittelalter, die im Kontext mit anderen, ähnlichen Erzählungen dazu dient, die Verschwörungsideologie vom „internationalen Judentum“ zu konstruieren.

[4] Eine Mischung aus Mensch und Außerirdischen oder Mensch und Reptil; so werden beispielsweise Angela Merkel oder Barak Obama in entsprechenden Foren als Reptiloide bezeichnet; vgl. dazu  https://www.derfabulant.de/reptiloiden/ (1.12.2023)

[5] Vgl.  Rechtsextreme Verschwörungserzählung: Der Mythos vom „großen Austausch“ - taz.de

[6] Vgl. https://www.verfassungsschutz.de/SharedDocs/glosaareintraege/DE/Q/qanon.html (1.12.2023)

[7] Das Zwei-Plus-Vier-Abkommen von 1990 zwischen den beiden deutschen Staaten und den vier Siegermächten des Zweiten Weltkrieges (USA, UdSSR, F, GB) stellte die endgültige innere und äußere Souveränität des vereinten Deutschlands her. Der Zwei-plus-Vier-Vertrag gilt „als die endgültige Friedensregelung mit Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg und markiert somit das Ende der Nachkriegszeit.“ https://de.wikipedia.org/wiki/Zwei-plus-Vier-Vertrag (1.12.2023)

[8] https://www.bpb.de/system/files/dokument_pdf/BPB_Info-aktuell-35-2020_barrierefrei.pdf (4.12.23)

[9] Ganser ist ein Schweizer Verschwörungsideologe, der oft in Deutschland auftritt und hier auch seine Bücher verkauft.

[10] QAnon und Ganser geben vor, nur Fragen zu stellen und vertreten dabei offensiv die Ansicht, die „Neue Weltordnung“ habe die Anschläge vom 11.09.2001 in Auftrag gegeben; vgl. dazu auch Michael Butter (52021), S. 158.

[11] https://www.ndr.de/nachrichten/niedersachsen/Umstrittener-Historiker-Wer-ist-Daniele-Ganser,ganser114.html (4.12.23)